Erinnerungen
Travia 1033 BF, Baronie Dergelquell
Der Himmel war grau und schwere Wolken zogen eilig gen Süden, getrieben durch den kühlen Augrimmer, der einen den nahenden Winter schon spüren ließ. Vor den hölzernen Palisaden des Dorfes Dergelbrück stand eine einsame Gestalt auf dem Boronsanger und betrachtete stumm eine einfache Steintafel. Der schwere Mantel auf den Schultern des Mannes flatterte im Wind. Walthari zog den Kragen enger um den Hals. Es war das erste Mal seit der Beisetzung seines Schwertvaters, dass er die Zeit gefunden hatte, das Grab zu besuchen.
Gero von Schönergrund war im Winter des letzten Jahres gestorben. Lungenentzündung, hatte die Kräuterfrau gesagt. Als er selbst in Papenstein davon erfuhr, hatte er sofort jemanden nach einem Geweihten aus Loe schicken lassen. Doch es war schon zu spät. Das Alter, der entbehrungsreiche Winter, das Fieber. Die Kraft des alten Haudegens hatte nicht ausgereicht um dem zu widerstehen. Aber hatte er es sich so nicht gewünscht? Im Bett sterben, nicht mehr kämpfen? Walthari seufzte. Er vermisste seinen Schwertvater. Gero war mehr als ein Ausbilder gewesen. Er hatte seinen Vater ersetzt und war immer an seiner Seite gewesen, was auch immer geschehen war. Erst als Walthari mit Dergelbruck belehnt wurde und Rovena in sein Leben getreten war, hatte Gero sich etwas zurückgezogen. Sein Tod hatte ihn zu tiefst erschüttert. Fast als wäre ein Teil von ihm mit gestorben. Auch jetzt war die Trauer immer noch greifbar. Wahrscheinlich lag das daran, dass in den letzten Monden wenig Zeit dafür gewesen war.
Auf der Suche nach im Efferd des letzten Jahres entführten Baronin Aargrein waren er und die übrigen Ritter Dergelquells immer tiefer in den Schattenforst und den Finsterkamm vorgedrungen. Tag für Tag, Woche für Woche, bis sie irgendwann doch aufgeben mussten. Die junge Schwester – und wohl zukünftige Baronin – Aargreins, Morena, war ein ganz anderes Problem. Die Nachricht, dass sie im Kosch die Zauberei erlernt hatte, war doch sehr überraschend gewesen. Eigentlich wollte sie nicht länger bei den strengen Rohalswächtern bleiben und war deshalb zu ihrer Schwester praktisch geflohen. Doch die Entführung Aargreins und das anschließende Auftauchen Feracinors hatten sie eines besseren belehrt, so dass sie gleich nach dem Winter aufgebrochen war. Nicht lange danach hatte Emmeran dann zum Heerzug gegen den Drachen gerufen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Tsa seinen Bund mit Rovena bereits gesegnet und seine Frau erwartete ein Kind. Walthari hätte nie gedacht, dass dies alles ändern würde. Zum ersten Mal hatte er nicht nur die Angst um sein Leben gespürt, als er auszog. Diese Angst kannte er und sie war leicht zu verdrängen. Doch die Furcht, die Geburt seines Kindes nicht zu erleben, es nicht aufwachsen zu sehen, war ungleich größer gewesen. „Da hast du mir gefehlt, alter Mann“, dachte Walthari. „Mit dir konnte ich auch über Ängste reden.“
Dann kam die Schlacht gegen Feracinor, den Roten Marshall. Ein Schauer durchlief Walthari als er an den Kampf dachte. Manche sagen heute, Emmeran und seine Ritter hätten den Drachen zurückgeschlagen, unter hohen Verlusten zwar, aber zurückgeschlagen. Doch er wusste es besser. Er war dabei gewesen, in der Schlucht, dem Ungeheuer ausgeliefert. Der Drache hätte sie alle töten können. Aber er hatte mit ihnen gespielt, wollte ihre Angst sehen wenn sie begriffen, dass sie ihm nichts anhaben konnten. Sie hatten ihn überrascht, ein einziges mal nur. Und da hatte der Graf zugestoßen und ihn verwundet. Mehr aber auch nicht. Feracinor hatte sie absichtlich am Leben gelassen, da war Walthari sich sicher. Er wusste nicht warum, aber wer will schon die Gedanken eines Wesens nachvollziehen, dass die Zeitalter überdauert hatte. Es war ihm auch egal. Er lebte, nur das zählte. Die Verluste stellten die ganze Grafschaft vor eine große Aufgabe. Lange würde es dauern, bis sie wieder volle Stärke hatten. Währenddessen konnte man nur hoffen, dass der Schwarzpelz sich ruhig verhielt.
„Hochgeboren! Hochgeboren!“ Walthari schreckte erst aus seinen Gedanken hoch, als die Stimme ganz nahe war. Er hasste es, so genannt zu werden, auch wenn ihm dies als neuer Vogt der Baronie zustand. Aber er betrachtete sich selbst immer noch als Ritter der Finsterwacht, Edler von Dergelbruck…aber nicht als Herr über eine Baronie. Und daran wollte er sich auch gar nicht erst gewöhnen. Etwas zu unwirsch erklang daher seine Antwort „Ja, was denn?“ Walthari drehte sich um und sah den jungen Roban schon fast neben ihm stehen. Der junge Mann atmete schwer und hatte Schweiß auf der Stirn. Offenbar war er gelaufen und sehr aufgeregt. Nach dem Tod Geros hatte sein Knappe Roban wie selbstverständlich dessen Aufgaben auf dem Lehen übernommen. Diese waren sehr umfangreich, da Walthari seit seiner Erhebung zum Vogt kaum Zeit für sein eigens Lehen hatte. „Guter Mann“ ging es ihm durch den Kopf und er gemahnte sich selbst, bald eine Entscheidung über die Zukunft des Jungen zu treffen. „Was denn nun?“ fragte Walthari noch einmal. Anstatt zu antworten hob Roban nur den rechten Arm und zeigte damit an ihm vorbei. Als Walthari über seine Schulter blickte, sah er, was den Knappen die Sprache verschlug und auch ihm schnürte sich die Kehle zu. Hinter der nächsten Bergkette kräuselten sich mehrere schwarze Rauchsäulen in der Luft und wurden durch den Wind nach Süden gezogen. Dort musste Papenstein liegen und es brannte. Dann entstieg dem Tal eine geflügelte Gestalt, die sich auch auf die Entfernung deutlich vom Grau des Himmels abhob, da ihre Haut Rot wie das Feuer war – Feracinor.