Von Fächern und Tanzschritten

 

Gut Montalto, Liebliches Feld, Rahja 1022

Maestro Alonso schüttelte missbilligend den Kopf. Der Tanzmeister aus Vinsalt, der dort an der berühmten Schule der Hohen Tanzkunst ausgebildet worden war, ließ Lyssandra die Geste mit dem Fächer wiederholen. Sie war die wortlose Annahme der Einladung zum Tanz. Immer noch zuckten die Mundwinkel des herausgeputzten Gecken, den Tante Alisa und Onkel Garis ihr aufgezwungen hatten. Beide waren übereingekommen, dass Lyssandras Kenntnisse der Etikette dringend verbesserungsbedürftig waren.

***

Schon als sie vor drei Monden am ersten Abend ihres Aufenthaltes auf dem Familiengut Montalto in dem Kleid horasischen Stils, das ihre übers Nirgendmeer gegangene Mutter einst getragen hatte, im Salon erschien, hatte sie einen amüsierten Blick ihrer Gasteltern geernetet. Tante Alisa musterte Lyssandra von Kopf bis Fuß und Onkel Garis kommentierte das Kleid mit den Worten: „Das Kleid weckt Erinnerungen. Hattest du nicht auch mal so ein Kleid in diesem Stoff, liebste Schwester?“

Die Tante nickte und klärte die Weidenerin auf, dass das Kleid mit seinen Rüschen und spitzenbesetzten Puffärmeln nicht mehr der aktuellen Mode entsprach. Auch der Stoff, aus dem es gefertigt war, zeigte, dass es aus der Mode gekommen war. Alisa klärte Lyssandra auf, dass man sich jetzt nach der „Moda alla Aureliana“ kleidete und wies auf ihr Kleid, das aus fließendem Stoff gerade geschnitten war und beinahe bis zum Boden herabfiel. Die Taille war hoch angesetzt, direkt unter den Brüsten, und der lange Rock mit einer brokatenen Borte vom fein bestickten Oberteil abgesetzt. Die Ärmel waren kurz und bauschig. Um den Rücken und die Arme hatte die Tante ein reich besticktes Tuch geschlungen, das farblich auf das Kleid abgestimmt war.

Das Abendessen wurde zum Debakel. Denn auch wenn es am Tisch ihrer Mutter Geschirr und Besteck gegeben hatte und Thalya auf gute Tischsitten geachtet hatte, merkte die Finsterbornerin sehr schnell, dass die Manieren, die sie erlernt hatte, sich nicht mit den feinen Essgewohnheiten ihrer Gasteltern deckten. Eine Unzahl an Werkzeugen lag neben dem Teller aus feinstem Porzellan und ließ die Weidenerin verzweifeln. Wozu waren diese Gerätschaften und wie nahm man sie in die Hand?

Die Tante erkannte sogleich die Unsicherheit Lyssandras und ließ ihren Bruder wissen, dass es wohl noch einiges zu lernen geben würde für das „Würzelchen“ aus Weiden. Mit sanftem Tadel und wohlgemeinter Fürsorge wies die Tante ihre Nichte in den Gebrauch der Speisewerkzeuge ein. Das Mahl begann mit einem Potpourri aus Flusskrebsen auf einem Bett aus Tomaten und Melanzanen, wie der livrierte Diener, der die Teller auftrug, säuselnd zum Besten gab.

Lyssandra hatte noch nie im Leben Flusskrebse gegessen und hatte auch keine Ahnung, was Tomaten und Melanzanen sein sollten. Sie versuchte die Werkzeuge, die man ihr gegeben hatte, zu nutzen, um den Tieren mit den langen roten Schwänzen und dem seltsam geformten Kopf, der auch noch Fühler hatte, an den Panzer zu gehen. Mit einem Auge schielte sie darauf, wie Onkel und Tante das machten. Nachdem das merkwürdige Tier zweimal vom Teller auf den Tisch gehüpft war, nahm sich Tante Alisa der Sache an. Im Handumdrehen trennte sie den Kopf vom Rest des Körpers öffnete mit einer drehenden Bewegung den Schuppenpanzer und zog mit der langen, zweizinkigen Gabel den blassrosa Leib aus dem Panzer. Nun sollte Lyssandra die seltsame Flussassel essen. Sie atmete tief durch, hielt die Luft an und schob den Wurm in den Mund. Zu ihrer Überraschung war das Fleisch der Assel fest und gar nicht glibberig und überaus wohlschmeckend. Lyssandra schob zwischendurch einen Löffel voll Tomaten und Melanzane zwischen die Zähne. Sie war vom Wohlgeschmack des Tieres überrascht. Die roten Tomaten schmeckten süßlich-sauer und fruchtig, die Melanzane hatten eher eine mehlige Note, waren aber auch recht gut. Lyssandra kaute erfreut und nickte. Beim zweiten Tier gab sie sich Mühe es der Tante nachzumachen und auch wenn das nicht so funktionierte wie bei den Verwandten, kam sie doch an den Inhalt des roten Panzertiers.

Der Onkel nickte freundlich, wenngleich seine Mundwinkel wieder sanken, als der Diener Lyssandras Teller wegräumte und einige hässliche Flecken und Essensreste auf dem feinen Tischtuch offenlegte.

Das nächste Gericht war wenigstens einfach zu essen, freute sich die Weidenerin. Kleine, runde, schälchenartig geformte Gebilde aus Teig, die in einer roten Soße badeten. Die Tante nannte sie Nudeln und der Diener beschrieb die Soße als einen Jus aus Tomaten, verfeinert mit Silasilikum [Basiliskum?] und Onjegano. Lyssandra griff den Löffel und wollte drauflosschaufeln, als der vernichtende Blick ihres Onkels sie traf. Sie zuckte zurück und wartete, welches Gerät Onkel Garis nehmen würde. Er hob mit spitzen Fingern die Gabel hoch und fischte damit geschickt die Schüsselchen aus dem Teller. Also versuchte die Finsterbornerin ihr Glück. Sie fand, dass es ihr recht gut glückte, wenngleich doch einige Schüsselchen zurück in die rote Soße plumpsten und lustige, kleine Tupfen auf dem Tischtuch rund um ihren Teller und ihrem Kleid zauberten. Sie zu verstecken war leider nicht möglich. Also musste Lyssandra erneut den angewiderten Gesichtsausdruck ihres Onkels ertragen. Das Hauptgericht bestand aus einem winzigen Vögelchen, das in einer dunkelroten Soße schwamm und neben dem sich ein arangenfarbenes Hügelchen befand, das süßlich schmeckte, wie Lyssandra feststellte. Das Entbeinen des Vögelchens, das der Diener als Stubenküken mit Kürbisschnee bezeichnete, stellte die Weidenerin erneut vor eine große Herausforderung. In ihrer Heimat nahm man nicht entbeinte Braten einfach in die Hand und fieselte sie ab. Von ihrer Mutter wusste sie jedoch, dass man das im Horasreich nicht so machte. Und richtig, die Tante und der Onkel werkelten sogleich geschickt mit Messer und Gabel. Lyssandra mühte sich nach Kräften und tatsächlich gelang es ihr bald, dem Stubenküken zu Leibe zu rücken. Zufrieden nickten Tante und Onkel.
Die Krönung des Abends aber war, was zum Abschluss folgte. Der Diener offerierte der wohlig satten Tischgesellschaft einen Teller mit kleinen, braunen Quadraten. Tante Alisa lächelte selig und auch der Onkel grinste erfreut.
„Das ist etwas, das dir munden wird, mein weidener Täubchen!“, sagte Onkel Garis und bat sie zuerst zuzugreifen. Lyssandra überlegte, ob es sich wohl geziemte, die Finger zu nehmen, aber da Tante und Onkel nickten, als ihre Hand zum Teller zuckte, schien das wohl der Etikette zu entsprechen. Die Finsterbornerin ergriff das Stück, das sich glatt und zugleich warm anfühlte und steckte es in den Mund. In diesem Augenblick entfaltete sich ein Wohlgeschmack auf ihrer Zunge, so dass sie überrascht innehielt. Was war das? Das dunkle Täfelchen schmolz auf ihrer Zunge, wurde zu einem bitter-süßen Sud, der das Geschmacksorgan umspülte und an allen Bereichen ein Feuerwerk des Genusses zündete. Lyssandra versuchte den Sud solange wie möglich im Mund zu halten, doch die stetig nachfließenden Säfte der Speicheldrüsen spülten die bittere Süße schneller in den Hals als ihr recht war. Schon blieb nur noch eine Erinnerung an den Wohlgeschmack.
„Was war das?“, fragte sie die Tante staunend.
„Man nennt es Schokolade! Sie wird in einer Manufaktur in Brago bei Belhanka gefertigt. Schmeckt sie dir?“
„Oh ja, Tante Alisa! Das ist unglaublich!“ Lyssandra strahlte.
„Ich dachte mir schon, dass dir das schmecken würde.“ Die Justitiarin lächelte. „Und der Rest des Essens? Wir haben uns Mühe gegeben, dir etwas zu bieten.“
„Es war auf jeden Fall beeindruckend, Tante Alisa! Ihr wisst sicherlich, dass wir in Weiden viele dieser Genüsse nicht kennen. Das gibt es einfach nicht in dieser sehr unwirtlichen Gegend. Wir müssen uns mit einfachen Speisen begnügen. Ich danke euch deshalb sehr dafür, dass ihr extra für mich ein solch außergewöhnliches Mahl bereiten ließet.“

Tante und Onkel lächelten gönnerhaft und sahen sich gegenseitig an. Dann sagte Onkel Garis: „Ja, nachdem wir gerne öfter schön speisen, öfter mal Gäste haben oder uns auch in illustren Kreisen in Vinsalt, Kuslik oder Belhanka bewegen, ist es schon notwendig, dass du lernst, dich sicher in der horasischen Gesellschaft zu bewegen.“ Er sah zu Alisa hinüber. „Deine Tante und ich haben deshalb beschlossen, dass wir einen Maestro für dich engagieren, der dir hilft, die notwendige Etikette und die horasischen Gepflogenheiten und Tänze zu erlernen. Wenn du erst seine Schule durchlaufen hast, wirst du dich wohler fühlen, glaube mir, Carissima!“

***

Und da war sie nun, drei Götternamen später, im Unterricht des von ihrer Tante und ihrem Onkel engagierten Maestro Alonso. Der schlanke, drahtige Mann, dessen schwarzes Haar wie geölt glatt nach hinten frisiert und zum Pferdeschwanz gebunden war, nickte nun endlich zufrieden.
„Es sieht so aus, als hättest du diesen Teil endlich verstanden. Lass uns mit dem Pavone weitermachen!“
Lyssandra seufzte. An ein Ende der Lehrstunde war wohl noch nicht zu denken.