Ankunft auf Gut Montalto

 

In der Ponterra, 22. Peraine 1022

Beeindruckt von der Lieblichkeit der Landschaft ließ Lyssandra den Blick schweifen. Bewaldete Hügel, Weinberge und Hopfengärten, Viehweiden, Weizen-, Flachs- und Rapsfelder, dazu Beerenhecken und der allgegenwärtige Yaquir, der die Landschaft geschaffen und gegliedert hatte.

Der rege Verkehr auf der Yaquirstraße ließ nicht zu, dass sie sich allzu lang mit der Betrachtung der Landschaft aufhielt. Sie näherten sich Pertakis, dem Hauptort der Domäne Pertakis. Schon von weitem konnte man das Wahrzeichen der Landstadt sehen: die berühmte, fast 2000 Götterläufe alte Yaquirbrücke. Zwei Kastelle deuteten auf einen hohen Sicherheitsstandard durch städtische Truppen hin und auch an der großen Brücke gab es Befestigungsanlagen, die auf eine Zollstation hindeuteten.  Eine Vielzahl an größeren und kleineren Schiffen auf dem Yaquir deuteten auf einen bedeutenden Flusshafen hin.

Im nachmittäglichen Licht des Praiosmals erschien die Stadtsilhouette die Wärme des Tages einzufangen und an die durch Viae und Corsi flanierenden Menschen abzugeben. Lyssandra konnte sich gar nicht sattsehen an den hübschen, farbigen Kleidern der Menschen. Es gab unzählige verschiedene Kleidungsstile, nicht so gleichförmig wie in Weiden und auch noch vielfältiger als in Almada, wo man sofort an der Kleidung erkannte ob jemand Almadaner, Tulamide oder Zahori war. Hier trugen manche Männer und auch Frauen Pluderhosen, Hemden mit Spitzenbesatz und Wämser, die Kleider der Frauen imponierten mit Rüschen, Tüll und Elfenbausch. Gegen die Sonne schützten die Damen ihre vornehm blasse Haut mit Spitzenschleiern. Wieder andere zeigten sich in Kleidern mit hoher Taille und Puffärmeln oder Röcken aus mehreren Lagen Stoff, wobei man die untere Lage durchschimmern sah. Und dann gab es Männer, die eher rustikal wirkten mit ledernen, langen Hosen, Gemächtkapsel und langen, wollenen Jacken. Die Frauen, die sie begleiteten trugen grellbunte, weite Röcke. Auch das Schuhwerk war sehr variabel. Flache Lederschuhe, Schuhe mit Absätzen und Stiefel, die mit ausladenden Stulpen bis über das Knie hinausreichten. Es gab nichts. was es nicht gab. Das wirklich Besondere waren aber die Kopfbedeckungen. Viele Frauen und auch einige Männer trugen Hüte mit oder ohne Federschmuck, Mützen, Baretts oder zumindest Kappen oder Hauben.
Lyssandra war beeindruckt vom farbenfrohen Treiben und je länger sie die schön gekleideten Liebfelder betrachtete desto unwohler fühlte sie sich in ihrer weidener Rittergewandung mit dem eigentümlichen Tuch, dass sie nach Tulamidenart um den Kopf und Hals geschlungen trug. Beobachteten die Menschen sie? Sahen sie auf sie herab? War sie in ihren Augen hinterwäldlerisch?

Sie blickte zu Rainald hinüber, der neben ihr ritt. Auch der Waffenknecht beobachtete die flanierenden Leute. Besonders häufig sah er sich nach den hübschen Mädchen in ihren schönen Kleidern um. Als sie die Brücke und dem Flusshafen näherten erblickten sie eine Herberge, die sie ansprach. Lyssandra saß ab, nahm Rainalds Pferd am Zügel und bat ihn in der „Herberge an der Yaquirbrücke von Pertakis“ anzufragen, ob sie die Nacht dort verbringen durften.

Während der Waffenknecht in das schlichte Gebäude ging, sah die junge Ritterin dem hektischen Treiben am Flusshafen zu. Im Schatten der Brücke mit ihren dunklen, moosbewachsenen Steinpfeilern schoben sich drei Kais in den Yaquir hinein. Neben Flößen, kleinen Kähnen und einfachen Flussschiffen konnte man sogar hochseetaugliche Handelsschiffe und Flussgaleeren bewundern. Denn von hier ab war der Fluss bis ins Meer der Sieben Winde schiffbar. Die Stadt besaß das Stapelrecht, was dazu führte, dass alle Händler hier einen Zwischenstopp einlegen und ihre Waren am hiesigen Markt feilbieten mussten.

Rainald Spatzentanner kam zurück. Sie hatten die letzte Kammer bekommen, die die Herberge zu bieten hatte. Sie war klein und stickig, direkt unterm Dach. Die Hitze des Tages verwandelte den winzigen Raum, in dem der Staub im Lichte des einzigen Fensters tanzte, in ein Schwitzbad. Die Pferde waren gut untergebracht und so beschlossen die beiden Weidener einen kleinen Spaziergang zum Markt von Pertakis zu machen und auch dem Rondratempel einen Besuch abstatten, der dem Helden Ulfaro gewidmet war.

Mit großen Augen spazierten sie an den Marktständen und den unzähligen Läden vorbei. Es gab feinste Stoffe aus aller Welt: Leinen, Phraischafwolle und Seide, Glaswaren und schön glasierte Keramik, Schmiedeeisernes, Parfüme und Tinkturen, Uhren, Schmuck und Spielzeug. Lyssandra blieb stehen und nahm einen kleinen Kreisel zur Hand, der auf den ersten Blick ganz einfach wirkte, dunkel gebeiztes Holz mit hellen Querstreifen. Als sie ihn aber mit Schwung andrehte, begann er sich zu öffnen wie ein Pinienzapfen im Regen und bunte Farben im Inneren zu enthüllen. Gebannt betrachtete die Ritterin das Farbenspiel, das einen beinahe schwindelig werden ließ. Als der Kreisel langsamer wurde, schloss sich das Wunderwerk wieder, wie von Zauberhand. Der findige Händler verlangte einen stolzen Preis für das kleine mechanische Wunder. Lyssandra schüttelte entsetzt den Kopf und zog Rainald mit sich fort. Doch konnte sie den hübschen Kreisel nicht aus dem Sinn bekommen und als sie das dritte Mal an dem Stand vorbeikamen, war es um ihre Standhaftigkeit geschehen. Nach kurzem Verhandeln erstand sie den Kreisel für ihre Schwester Ysilda. Und nur mit Mühe widerstand sie der Verlockung ein kleines hölzernes Kästchen zu kaufen, in dessen Deckel die Yaquirbrücke von Pertakis mit mehrfarbigen Hölzern eingelegt war.

Viele der Güter, die Lyssandra auf dem Markt von Pertakis zu Gesicht bekam, kannte sie von ihrer Mutter. Hatte diese doch Jahr für Jahr eine Wagenladung horasischer Güter von ihrer Familie erhalten. Dabei waren stets edle Stoffe, Parfüm und vor allem Bücher, Gazetten und Briefpapier gewesen. Lyssandra erinnerte sich, dass die Mutter ganz versessen auf die Lektüre des Sheniloer Hesindeblattes gewesen war, das Nachrichten aus ihrer Heimat nach Weiden transportierte.

Erschöpft vom Spaziergang über den Markt und den Besuch des kleinen Rondratempels suchten sich die beiden Weidener eine Taverne. Auf Empfehlung eines Herrn in edler Kleidung, der ihre Ratlosigkeit bemerkte, überquerten sie die Brücke über den Yaquir um in dem am gegenüberliegenden Ufer befindlichen „Gasthaus am Semaphor“ zu speisen. Der Fluss war wohl etwa eine halbe Meile breit und die aufwändige Brückenkonstruktion aus dunklen Steinpfeilern in deren Mitte sich eine Zugbrücke befand, galt als die längste Brücke Aventuriens.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses befand sich neben dem Brückenkopf ein weiteres imposantes Bauwerk. Lyssandra staunte, als sie den mehrgeschossigen Turm erblickte, und hielt ihn zunächst für eine Windmühle. Auf einem soliden Sockel aus Bruchsteinen erhoben sich zwei weitere hölzerne Stockwerke und ganz zuoberst erkannte man einen wohl sicherlich 10 Schritt langen Pfahl. An diesem befanden sich vier große Tücher, die auf Gestelle gespannt waren, was ihnen ein wenig das Aussehen von Windmühlenflügeln gab. Doch der Schein täuschte.
„Was ist das?“, fragte die Finsterbornerin ihren Begleiter. Rainald zuckte mit den Achseln.
„Ich nehme an, dass ist der, die oder das „Semaphor“, denn dort liegt schon das „Gasthaus am Semaphor“.“

Er deutete auf ein hübsches Gebäude, das sich in unmittelbarer Nähe zu dem Turmbau befand.
Lyssandra betrachtete das Bauwerk interessiert. „Na, da bin ich aber mal gespannt. Bestimmt wird man uns im Gasthaus erklären können was ein „Semaphor“ ist.“

Sie bekamen von einer freundlichen Schankmaid einen hübschen Platz mit Blick auf den außergewöhnlichen Turm zugewiesen. Wasser, Wein und Brot wurden aufgetragen. Als die Schankmaid serviert hatte und schon wieder gehen wollte, hielt die Ritterin sie mit der Bitte fest, ihr zu erklären was ein „Semaphor“ sei.

Ungläubig sah die Maid die junge Weidenerin an. „Ihr wisst nicht, was dein „Semaphor ist? Nun ja, also mit dem Semaphor lassen sich Nachrichten in Windeseile von einem Ort zum anderen verbreiten. Hier treffen sich gleich zwei Nachrichtenlinien. Die eine kommt von Oberfels den Yaquir entlang und läuft bis nach Kuslik. Die andere beginnt hier und erstreckt sich über Arivor und Silas nach Methumis. Ein ausgeklügeltes Codesystem aus diesen vier Fahnen dort oben…“ Sie deutete auf den Pfahl mit den gespannten Tüchern, „… übermittelt Signale oder ganze Worte. Man kann sie mit Hilfe eines Entschlüsselungsbuches übersetzen. Ein Botenreiter bringt die Nachricht dann zum Empfänger. In der Regel ein Magistrat oder Offizier.“

Da staunten die beiden Weidener. „Eine grandiose Erfindung!“, befand Lyssandra und versuchte sich vorzustellen, ob dieses System auch für Weiden tauglich wäre. An der Finsterwachtkette beispielsweise?
„Hab Dank für die Erklärung!“ Die Ritterin entließ die Maid und wandte sich ihrem vorzüglichen Essen zu. Während Rainald einen Hasen in Rotweintunke bestellte, ließ sich Lyssandra pertakische Wickelnudeln gefüllt mit Flusskrebsen schmecken. Sie war ganz beseelt von dem wunderbar schmeckenden Gericht in Weißweinsoße, garniert mit Lauchzwiebeln.
„Oh, Rainald, ich werde kugelrund werden, wenn ich lange hier bleibe. Das leckere Essen und dann wahrscheinlich wenig Waffenübungen. Ich werde schnell Fett ansetzen. Einigen Liebfeldern sieht man ihren guten Lebensstandard auch an, finde ich.“

Sie lachte. Der Waffenknecht schob sich ungelenk mit der Gabel ein Fleischstück in den Mund. Als Soße über seine Mundwinkel lief wischte er diese mit dem Handrücken weg. Das zog die Blicke der Gäste an den umliegenden Tischen auf die beiden Weidener. Augenbrauen wanderten in die Höhe und missbilligendes Kopfschütteln offenbarte, dass sich einige der Anwesenden von den Tischmanieren des Weideners gestört fühlten. Lyssandra war froh, dass ihre Mutter so viel Wert auf Etikette gelegt hatte und sie von Kindesbeine an mit Messer und Gabel zu essen gelernt hatte.
Mit vollem Mund, geräuschvoll kauend, antwortete Rainald.
„Ich weiß gar nicht, was du an dem Essen hier findest, Lyssandra. Es ist viel zu wenig auf dem Teller und diese komischen Forken, mit der man das Fleisch essen soll, ist unpraktisch wie ne Mistgabel.“

Er hielt die Gabel senkrecht in die Höhe wie eine Pieke und biss von dem Hasenfleisch ab, das er darauf verankert hatte. Eine junge Frau in hübschem, rosafarbenem Kleid mit vielen Spitzen und Tüllbesatz, hob ihren Fächer hoch und hielt ihn so zwischen sich und den Nachbartisch, dass sie Rainald nicht mehr beim Essen zusehen musste. An einem anderen Tisch schalt eine Frau ihren Sohn, nicht so gebannt auf die Barbaren aus dem Norden zu starren, die mit ihren Tischmanieren bewiesen, wie rückschrittlich Nordaventurien doch sei und wie hoch es dem Horas anzurechnen sei, dass er das Liebliche Feld in eine Unabhängigkeit vom Rest des Raulschen Reiches geführt habe.

Lyssandra versuchte sich auf ihr Abendessen zu konzentrieren und die Kommentare und missbilligenden Blicke auszuklammern. Doch es gelang ihr nur unzureichend. Sie schwankte zwischen Ärger über die Borniertheit der Horasier und Scham darüber, dass man sie und Rainald an ihrer Kleidung und vor allem den Tischmanieren so leicht als Nordaventurier erkannt und dann verunglimpft hatte. So konnte sie das vorzüglich Mahl nicht so wirklich genießen. Sobald ihre Teller geleert waren, zahlte die Finsterbornerin. Sie traten den Rückweg zur Herberge an. Am kommenden Tag wollten sie Montalto und damit ihre Familie erreichen. Lyssandra war gespannt, ob ihr dort Ähnliches blühen würde. Würden auch ihre Verwandten sie als nordaventurischen Bauerntrampel und kulturloses Wesen betrachten?

***

Am kommenden Morgen machten sie sich früh auf den Weg, wollten sie doch das Gut der Familie ya Papilio an diesem Tag erreichen. Gegen Mittag betraten sie Côntris, ein Städtchen ohne Stadtmauer oder Brücke über den Yaquir. Im Gegensatz zum etwa viermal so großen Pertakis wirkte Côntris klein und rückständig. Es verfügte ebenfalls über einen Semaphorenturm und wie Lyssandra und Rainald gehört hatten, besaß der Baron von Côntris ein beachtenswert schönes Spiegelschloss. Dessen weitläufige Gartenanlagen waren jedoch hinter hohen Mauern verborgen, so dass die Reisenden einzig die vielen Spitztürmchen und Erkerchen erblicken konnten, die das zweigeschossige, V-förmige Gebäude zierten. Lyssandra gefiel das, was sie sehen konnte sehr und sie nahm sich vor, ihre Tante und den Onkel zu fragen, ob sie das Schloss einmal würde sehen dürfen.

Nach einer kurzen Mittagsrast auf einer Bank vor einer Schenke ging es weiter in das kleine Dorf Amelia. Von dort aus führte ein einfacher Feldweg zum Gut der ya Papilios. Dominierten am Yaquirufer noch der Weinanbau, breiteten sich entlang des Feldwegs, der sich langsam die Hügellandschaft von Côntris hinaufzog Flachs- und Rapsfelder, aber auch Hopfengärten und Streuobstwiesen aus. Zwischen den Obstbäumen übersäten bunte Wildblumen die satten Wiesen. Im Hintergrund erahnte man die Wälder, denen die Liebfelder ihre Felder, Wiesen und Wälder abgerungen hatten.

Plötzlich streckte Lyssandra den Finger aus. „Rainald! Sieh da! Oh, wie schön!“

Vor ihnen erstreckten sich große Felder wogender Tulpenkelche. In farbigen Streifen gleich einem Teppich angeordnet, zogen sich die Tulpenfelder den Hang hinauf zu der Anhöhe auf der man das Landgut Montalto erkennen konnte.

Die mehrgeschossigen Risalitbauten der beiden Wohnhäuser, die mit einem Loggiengang verbunden waren, enthielten die Wohnräume der Familie. Sie blickten auf das Tal des Yaquir, der in der Ferne floss. Eine Freitreppe führte von den Streuobstwiesen und Tulpenfeldern zur Loggia hinauf. Die Seitentrakte, die einen hübsch gestalteten Garten umgaben, boten sowohl repräsentativen Sälen, wie auch Wirtschaftsräumen, Gesindekammern, Küche und ähnlichen nützlichen Einbauten Platz. Ein wenig abseits des weitläufigen Gevierts standen die Ställe, die Remise und das Thermenhaus, das gespeist wurde von dem Bächlein, das auf dem Grund der Papilios seine Quelle hatte und sich hangabwärts in den Mühlenbach ergoss, der bei Brigonas den Yaquir speiste.

Während sie sich dem Gebäudekomplex näherten, konnten sie die verschiedenen Bauteile besser erkennen. Lyssandras Mutter hatte einige Male von der Weitläufigkeit des Landgutes und der wundervollen Aussicht geschwärmt. Thalya ya Papilio war auf Gut Monalto aufgewachsen, bevor man sie der zukünftigen Herzogin von Weiden, Yolina von Aralzin, als Hofdame in Dienst gegeben wurde.

Die Reiter mussten den Gebäudekomplex umrunden und näherten sich so den Ställen. Eilig kam ein Pferdeknecht angelaufen und half, die Tiere in Empfang zu nehmen.